KLAGE (2000)

KLAGE (2000)

Hoffnungsschimmer
Es eröffnet sich ein düsteres Bild im Inneren der barocken Altstädter Dreifaltigkeitskirche in Erlangen: auf beiden Seiten des Altars blicken aus den überlebensgroßen Aufnahmen von ausgemergelten Körpern schmerzverzehrte Gesichter mit hoffnungslosen Augen. Die Fotos sind in Kriegsgebieten entstanden: im ehemaligen Bosnienkrieg und in Hungergebieten in Afrika. Umrahmt wird die Szenerie von einem Glockenspiel, dessen archaischer Klang an Hirtenglocken erinnert, und einem Großfoto einer Tontafel, das von der Empore hinabhängt. Auf ihr schrieb ein Dichter im Mesopotamien der frühdynastischen Zeit (2600-2340 v. Chr.) in elf Strophen mit 436 Zeilen ein Klagelied. Es erzählt die blutige Geschichte der Zerstörung der Stadt Ur beim Untergang ihres Reiches, die sich sowohl auf der Erde als auch im Himmel abspielt. Kleinere, aneinandergereihte Fotos der Tontafel an der Seitenwand, punktuell mit schwarzem Pigment verfremdet, leiten über das Glockenspiel zum Altar zurück. Die Atmosphäre wird im Dialog von einem urtümlichen Klagen mit vertrautem Glockengeläut durchschnitten. Die Improvisation der menschlichen Singstimme von Anne Pape klagt über Verlust, Schmerz und Tod. Die Töne hüllen die Szenerie ein, lassen die temporäre Installation zu einem synästhetischen Erlebnis werden; das schmerzvolle Moment verbindet alle Einzelteile.  

Die Intention der Künstlerin ist aktueller und verständlicher denn je: Was hält unsere Gesellschaft zusammen, was macht sie aus, wie viel kann sie ertragen? Nichts hat sich in den knapp 4000 Jahren an unserem Werteverständnis und unserem menschlichen Miteinander geändert: noch immer werden sie in vielen Teilen unserer Erde mit Händen und Füßen getreten, noch immer bestimmen Krieg und Gewalt unsere Gesellschaften. Die Pressebilder erfüllen als Heiligenfiguren neben dem wichtigsten Element der Liturgie die Aufgabe von Mahnsäulen: der Altar ist der Mittelpunkt einer jeden Kirche und eines jeden Gottesdienstes. Am Altar liegt die Bibel, dort wird das Heilige Abendmahl gefeiert. Der Gläubige empfängt Christi wahren Leib und sein wahres Blut zur Vergebung der Sünden. Hier ist die Gegenwart Gottes besonders deutlich und die Warnung an uns Menschen am eindringlichsten: Das plakative Aufstellen der Gräuelfotos erinnert uns an unser Handeln und den Einsatz für das Gute in unserem Leben. Schon die Göttin von Ur, flehend und bittend dem Rat der Götter gegenüberstehend, mahnt im mesopotamischen Klagelied: „Könnte doch dieses Unglück ungeschehen sein!“. So düster die Installation KLAGE der Künstlerin wirkt, so viel Hoffnungsschimmer trägt sie in sich: das Glockengeläut als friedliches Moment, als Naturgeräusch, kann sich über das Klagende legen und es verschlingen.

franziska kloeters

 

Klagelied über den Untergang der Stadt Ur
Sumer / Unteres Mesopotamien
Anfang 2. Jahrtausend v. Chr.
Tontafel (24,5 x 13,6)
Louvre: AO 6446

Der Text enthält ein Klagelied, Vorläufer der biblischen Klagelieder und ist etwa 2000 v. Chr. in Mesopotamien entstanden. Das Land erlebte zu dieser Zeit zahlreiche kriegerische Invasionen, sowie blutige Auseinandersetzungen unter den Städten des Landes, die sich nach dem Fall des 3. Reiches von Ur die Macht sichern wollten.

Nachfolgend der Auszug einer Passage in der Ningal, Göttin von Ur, flehend und bittend dem Rat der Götter gegenübersteht, die verpflichtet sind, das zerstörerische Schicksal zu erfüllen:

 

Das Blut der Länder häuft sich wie Bronze und Blei.

Ihre Toten schmelzen zusammen, wie das Fett in der Sonne.

Ihre Menschen, vom Beil zerschmettert, kein Helm bietet Schutz;

Wie eine Gazelle in der Falle liegen sie dahin gestreckt, den Mund im Staub…

Die Mütter und Väter, die ihr Haus nicht verlassen, werden vom Feuer verschlungen.

Die Kinder, verborgen im Schoss ihrer Mutter, werden wie Fische von den Wassern davongetragen.

Könnte doch dieses Unglück ungeschehen sein!

Könnte doch die Pforte der Stadt sich wieder schließen, wie der große Schutzschild der Nacht.

 

© Ulla Schoedel | Anne Pape


#kreativ.kopf
#hoffnung
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temporäre Rauminstallation
Altstädter Kirche, Erlangen (2000)

Zur Steintafel im Louvre: https://louvrebible.org/oeuvre/86/louvre_departement_antiquites_orientales (Lamentation sur la ruine d’Ur)